- Kino nach dem Ersten Weltkrieg: Stummfilm
- Kino nach dem Ersten Weltkrieg: StummfilmIm zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts verlagerte die amerikanische Filmindustrie ihre Produktionstätten von der Ost- an die Westküste. 1908 hatten sich die führenden amerikanischen Filmproduzenten und Importeure wie Edison Company, Biograph und Vitagraph, alle in New York ansässig, zu einem Trust, der Motion Picture Patents Company, zusammengeschlossen. Dieses Kartell besaß das Monopol über alle für Aufnahme- und Vorführapparate nötigen Patente und verlangte für deren Nutzung Lizenzgebühren. Unabhängige Produzenten, die diese Zahlungen verweigerten, waren vor der Kontrolle durch den Trust ins ferne Kalifornien geflohen: Im westlich von Los Angeles gelegenen Hollywood waren die Grundstückspreise und Arbeitslöhne niedrig, die klimatischen und landschaftlichen Verhältnisse ideal: Berge und Meer waren nah und konnten als Kulissen genutzt werden. Von 1910 an hatten die Filmgesellschaften ihre Drehstäbe während der Wintersaison nach Hollywood gesandt; gegen Mitte des Jahrzehnts war die Ortschaft zum Zentrum der amerikanischen Filmproduktion avanciert. Die Studios errichteten Ateliers, an die sich Freigelände (»backlots«) für die Außenaufnahmen anschlossen. Während der Zwanzigerjahre entwickelte sich in Hollywood das Studiosystem, jene spezifische Organisationsform der amerikanischen Filmindustrie, die den Ortsnamen Hollywood zum Synonym für die Fabrikation von filmischer Traumware werden ließ.Während der bis in die späten Fünfzigerjahre reichenden Ära des Studiosystems konzentrierten die marktbeherrschenden Firmen Herstellung, Verleih und Vorführung von Filmen unter einem Dach und kontrollierten somit jeden Schritt, den die Ware Film auf dem Weg von der Planung bis zum Zuschauer durchlief. Diese spezifische industrielle Infrastruktur bildete die Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg der Studios. Doch nicht die prestigeträchtige Produktion warf den größten Gewinn ab, sondern der Verleih. Die Majors genannten großen Firmen hatten umfangreiche Verleihnetze aufgebaut, über die Verträge mit den Lichtspielhäusern geschlossen wurden und kleinere Studios und unabhängige Produzenten ihre Produkte in die Kinos bringen mussten. Die fünf größten Studios - Paramount, Metro-Goldwyn-Mayer, Warner Bros. (Brothers), 20th Century-Fox, RKO/Radio-Keith-Orpheum - besaßen zudem eine Vielzahl eigener Kinos, vor allem die Uraufführungspaläste in den Großstädten. Aber auch die kleineren der Majors (Universal, Columbia und die Verleihfirma United Artists) waren bei der Auswertung ihrer Prestigefilme auf diese Premierenkinos angewiesen.Die großen Studios waren aus Zusammenschlüssen von kleineren Produktionsfirmen, Verleihern und Besitzern von Kinoketten nach dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen. Die meisten Firmengründer wie Carl Laemmle (Universal), Harry Cohn (Columbia), William Fox (Fox), Marcus Loew (Metro-Goldwyn-Mayer), Adolph Zukor (Famous Players/Paramount), Harry, Jack und Sam Warner (Warner Bros.) stammten aus jüdischen Familien mittel- oder osteuropäischen Herkunft. Diese Pioniere der amerikanischen Filmindustrie, Tycoons genannt, vereinten modernes Unternehmertum mit patriarchalischem Führungsstil.Oberstes Gebot der Studios war die wirtschaftliche Rentabilität. Film war eine Ware, deren Herstellung nun industrialisiert wurde. Diese Produktionsweise führte zu einer fortschreitenden Arbeitsteilung, die ein hochgradig spezialisiertes Personal erforderte: In den Studios entstanden Fachabteilungen für Drehbuch, Inszenierung, Fotografie, Bauten, Kostüme, Musik und Schnitt. Film wurde zum Produkt eines kollektiven, von Produzenten überwachten Schaffensprozesses. Die Studios wählten Drehbücher aus, kalkulierten Budgets, besetzten Rollen und stellten technisches Personal ein.Die Standardisierung des Produktionsprozesses etablierte Genres mit starren Konventionen. Eines der populärsten Genres des amerikanischen Stummfilms war die Slapstick-Komödie, die auf physischer Situationskomik beruhte. Verfolgungsjagden, Prügeleien, Tortenschlachten und Explosionen waren immer wieder neu variierte Elemente dieser Komödien. Ein Gag jagte den anderen, sodass weder den Figuren, die selbst größte Katastrophen körperlich unversehrt überstanden, noch den Zuschauern Zeit zum Atemholen blieb. Während in der Realität materielle Werte immer mehr an Bedeutung gewannen, zelebrierten die Filme mit kindlicher Lust Chaos und Zerstörung. Populäre Darsteller dieser meist nicht abendfüllenden Slapstick-Komödien waren zum Beispiel Oliver Hardy und Stan Laurel. Charlie Chaplin, Buster Keaton, Harry Langdon und Harold Lloyd gelang es in längeren Spielfilmen, die komischen Momente in eine Geschichte zu integrieren. Zu den ersten Genres, die sich im amerikanischen Kino etablierten, gehört auch der Western: Sein Thema war die Eroberung des Westens und dessen Zivilisierung. Die frühen Kurzwestern hatten einen seriellen Charakter und variierten Standardsituationen. In den Zwanzigerjahren entstanden dann abendfüllende epische Filme wie »The Covered Wagon« (1923) und »Das eiserne Pferd« (1924).Entscheidend für den Erfolg des amerikanischen Kinos war die Etablierung des Starsystems. Vertraglich an ein bestimmtes Studio gebundene populäre Schauspieler verkörperten immer wieder einander ähnelnde Figuren und entwickelten so ein spezifisches Image. Diese anfangs meist weiblichen Stars wurden zu einem wichtigen Faktor bei der Vermarktung der Filme. Die Studios begannen, mit den Namen der Schauspielerinnen zu werben, und das Starwesen spiegelte die wechselnden Modeströmungen: Nachdem das Kinopublikum zunächst naive, unschuldige, mädchenhafte Frauen wie Lillian Gish und Mary Pickford bevorzugt hatte, waren es Anfang der Zwanzigerjahre laszive, männermordende Vamps. Auch männliche Schauspieler gelangten nun zu Starruhm: Douglas Fairbanks als verwegener Draufgänger und Rudolph Valentino als Latin Lover, eine männliche Variante des Vamps. Mitte der Zwanzigerjahre wechselte der Zeitgeschmack erneut: Anstelle des Vamps trat der »Flapper«, die moderne, urbane, selbstbewusste Frau vom Schlage einer Clara Bow. Zum größten Star der späten Stummfilmzeit avancierte die Schwedin Greta Garbo, deren androgyne Schönheit auf Zuschauer beiderlei Geschlechts gleichermaßen wirkte.Auch europäische Regisseure wie der Deutsche Ernst Lubitsch, der Ungar Mihaly Kertész (Michael Curtiz) oder der Österreicher Josef von Sternberg machten in Hollywood Karriere. Der aus Wien stammende Erich von Stroheim entwickelte in seinen Filmen eine ästhetische Konzeption, die ihn zu einem Antipoden von David Wark Griffith machte. Während Griffith mittels der Montage die modernen Erzählstrukturen des Films - Parallelhandlungen, Zeitsprünge, Ortswechsel - etablierte, setzte Stroheim auf Kontinuität und Evidenz, auf die Monotonie der realen Zeit, auf einen Realismus der Dauer. Bei seiner obsessiven Suche nach Authentizität noch im kleinsten Detail überzog Stroheim regelmäßig das ihm bei Metro-Goldwyn-Mayer gesetzte Budget und drehte Filme von mehreren Stunden Länge. Immer wieder kürzte der Produzent Irving Thalberg Stroheims Filme auf eine konventionelle Länge. Die Epoche, in der ein Regisseur die totale künstlerische Kontrolle über seinen Film besaß - vom Drehbuch über die Dreharbeiten bis hin zum Schnitt -, war endgültig zu Ende gegangen. Es begann das Zeitalter der Produzenten und damit die Ära des klassischen Studiosystems.Die deutsche Filmindustrie erlebte nach dem Ersten Weltkrieg und zu Beginn der Zwanzigerjahre eine wirtschaftliche Blüte. Die Inflation machte Investitionen ins Filmgeschäft lukrativ. Dank geringer Herstellungskosten dominierten deutsche Produktionen nicht nur den einheimischen Markt, auf dem ausländische Anbieter wegen des Verfalls der Mark keinen Profit erwirtschafteten, sondern auch im Ausland konnten sie wegen des Währungsgefälles günstig angeboten werden. In den ersten Jahren der Weimarer Republik herrschte eine Aufbruchstimmung: Traditionelle Werte und Institutionen waren fragwürdig geworden, sexuelle Sitten wurden gelockert, moralische Tabus gebrochen. Das Kino spiegelte diesen Wandel: Sitten- und Aufklärungsfilme beschäftigten sich nun mit Themen wie Homosexualität, Prostitution und Abtreibung. Auch die Kostümfilme des Regisseurs Ernst Lubitsch, die mit frivolem Witz historische Figuren als ihren Leidenschaften ausgelieferte Menschen zeigten, standen ganz im Zeichen eines neuen, antiautoritären Geistes.Das Kino der frühen Weimarer Zeit war vor allem eines der physischen Bewegung. Detektivserien setzten auf Tempo, Aktion und Artistik, auf Technik und Fortschritt. In ihnen präsentierten die Helden einen modernen, urbanen Lebensstil, ein Bewusstsein für den eigenen Körper. Aufwendige Abenteuerfilme spielten in fernen Ländern und verflochten Erotik und Exotik mit Kriminal- und Rachehandlungen. Erste internationale Anerkennung fand das deutsche Kino mit dem expressionistischen Film zwischen 1919 und 1924. Von zeitgenössischen Einflüssen der Malerei, des Theaters und der Architektur geprägt, thematisierten Filme wie »Das Cabinet des Dr. Caligari« (1919/20) oder das »Wachsfigurenkabinett« (1924) einen die Identität gefährdenden Konflikt zwischen Seelenleben und äußerer Realität: Die Figuren sind dem Schicksal ausgeliefert; sie irren, getäuscht von den eigenen Sinnen, schlafwandelnd, tagträumend, halluzinierend oder willenlos durch labyrinthische, aus den Fugen geratene Szenerien. Stilistisch wird das expressionistische Kino von der Filmarchitektur dominiert: Der bizarr verzerrte Dekor artikuliert das gespannte Verhältnis der Figuren zu ihrer Umwelt, ihre psychische Instabilität und ihre übersteigerte Subjektivität.Expressionistischer Stilisierung entgegengesetzt war der naturalistisch orientierte Kammerspielfilm, der sich auf wenige Figuren konzentrierte und dessen Handlung die Einheit von Ort und Zeit respektierte. Vom Kammerspielfilm übernahm der Straßenfilm eine auf wenige Charaktere beschränkte Figurenkonstellation. Die schicksalhaften Handlungskonflikte spielten sich nicht mehr in häuslichen Interieurs ab, sondern auf den - im Atelier errichteten - Straßen der Großstadt. Die Verankerung der Filmhandlung im großstädtischen Ambiente, wie sie seit Mitte der Zwanzigerjahre gepflegt wurde, ging auch auf den Einfluss der Neuen Sachlichkeit zurück. Das filmische Interesse für die Oberfläche der Erscheinungen löste Expressivität und Symbolik ab. Bekanntester Repräsentant dieser neuen Sehweise ist der Regisseur Georg Wilhelm Pabst mit Filmen wie »Die freudlose Gasse« (1925), »Die Liebe der Jeanne Ney« (1927) oder »Tagebuch einer Verlorenen« (1931).Die deutsche Filmwirtschaft erlebte in den Zwanzigerjahren einen Prozess der Konzentration. Im Dezember 1917 wurde die Universum-Film AG, kurz Ufa, gegründet. Die Firma avancierte nach dem Ersten Weltkrieg zunächst zum größten Filmkonzern in Deutschland, nach der Übernahme zahlreicher kleinerer Gesellschaften Anfang der Zwanzigerjahre dann zum größten in Europa. Ähnlich wie die großen Hollywoodstudios verfügte auch die Ufa über Produktionstätten, einen Verleih und eigene Kinos. Die Qualität des deutschen Films im Allgemeinen und der Ufa im Besonderen war das Zusammenspiel von Raumgestaltung, Lichtführung, Kamerabewegung und Schauspiel, bei dem neben Regisseuren und Akteuren vor allem Kameraleute und Architekten eine herausragende Rolle spielten. In den Ateliers stand die mittelalterlich-ständische Idee der »Bauhütte« Pate für ein Modell kollektiver Arbeit. Der Film wurde als Gesamtkunstwerk betrachtet, bei dem die Seelenverwandtschaft zwischen den Repräsentanten der einzelnen Disziplinen als Voraussetzung für künstlerisches Gelingen beschworen wurde. Der Film wurde zwar als Medium der Moderne begriffen, seine Herkunft aus industriellen Produktionsformen jedoch verdrängt.Bei der Ufa standen viele bedeutende Regisseure des deutschen Stummfilms unter Vertrag. Dabei zeigen die Filme der beiden Antipoden Fritz Lang und Friedrich Wilhelm Murnau nicht nur hinsichtlich der Regiekonzepte, sondern auch der Lichtstrategien die stilistische Spannbreite im deutschen Stummfilm der Zwanzigerjahre. Während Lang eine grafische, streng stilisierende Lichtgestaltung bevorzugte, dominiert in Murnaus Filmen ein flutendes, die Konturen umspielendes Licht mit sanften, abgestuften Schattenübergängen, das im Rückgriff auf die Maltechnik Caravaggios als Chiaroscuro (Helldunkel) bezeichnet wird. Regie, Lichtgebung, Kameraarbeit, Architektur: Der deutsche Stummfilm der Zwanzigerjahre war auf allen Ebenen von Pluralität gekennzeichnet.Nachdem Russland zunächst Filme aus dem Ausland importiert hatte, begann es etwa von 1908 an eine eigene nationale Filmproduktion zu entwickeln. Die Filme der zaristischen Zeit waren in erster Linie Kostüm- und Ausstattungsdramen, die auf historischen Figuren und Ereignissen oder literarischen Stoffen basierten. Ab 1913 kamen auch Salondramen nach skandinavischem Vorbild in Mode, und die Handlung verlagerte sich von der Vergangenheit in die Gegenwart, von den Exterieurs in die Interieurs. Die Schauspieler agierten in diesen Filmen sehr stilisiert und stark verlangsamt, die Einstellungen waren Tableaus nachempfunden. Die Filme kultivierten die Melancholie und endeten stets tragisch. Größter Star dieses Kinos war der Schauspieler Iwan Mosschuchin.Nach der Oktoberrevolution erkannte die neue Führung früh die erzieherisch-ideologischen Möglichkeiten des Mediums, und Ende August 1919 wurde die Filmindustrie von Lenin per Dekret verstaatlicht. Dennoch dauerte es einige Jahre, bis sich ein Kino etablieren konnte, das mit den ästhetischen Traditionen der zaristischen Zeit endgültig brach. Eine Generation junger Regisseure trat an, die Filmsprache radikal zu verändern. Ihr Interesse galt nicht mehr dem einzelnen Bild, sondern der Methode, nach der die Einstellungen miteinander verknüpft werden. Bereits Anfang der Zwanzigerjahre hatte Lew Kuleschow, der an der neu gegründeten Filmhochschule in Moskau lehrte, die Möglichkeiten der Montage in einem berühmt gewordenen Experiment demonstriert: Er kombinierte eine Großaufnahme des Schauspielers Mosschuchin zunächst mit dem Bild eines mit Suppe gefüllten Tellers, dann mit dem einer toten Frau und zuletzt mit dem eines spielenden Mädchens. Obwohl es sich stets um die gleiche Aufnahme des Schauspielers handelte, glaubten die Zuschauer, seine Mimik würde sich verändern und Nachdenklichkeit, Trauer oder Glück ausdrücken - je nach Motiv, mit dem die Einstellung in Beziehung gesetzt wurde. Diese Suggestionskraft der Montage wurde als Kuleschow-Effekt bekannt.Beeinflusst von Kuleschows Experimenten entwickelte der Regisseur Sergej Eisenstein sein Konzept von der »Montage der Attraktionen«: Einzelne Einstellungen sollten so miteinander verbunden werden, dass ihr dynamisches Mit- und Gegeneinander die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf sich lenkt und eine schockartige Erkenntnis hervorruft. Eisenstein realisierte diese theoretischen Überlegungen in seinem Debütfilm »Staška« (= Streik, 1925), indem er die Bilder niedergemetzelter Arbeiter mit denen eines abgeschlachteten Ochsen kombinierte. In »Panzerkreuzer Potemkin« (1925) erreichte Eisensteins Montagekunst ihren Höhepunkt. Die Sequenz, in der zaristische Soldaten die große Freitreppe in Odessa herabmarschieren und fliehende Zivilisten füsilieren, ist in die Filmgeschichte eingegangen. Die revolutionäre Ästhetik des Films setzte die Dynamik des Matrosenaufstandes von 1905 formal adäquat um und beeinflusste auch die Filmschaffenden anderer Nationen nachhaltig.Während in Eisensteins Filmen der Zwanzigerjahre ein meist von Laien dargestelltes Kollektiv im Mittelpunkt steht, zeigen die Filme Wsewolod Pudowkins individuelle Charaktere. Pudowkin verband traditionelle Schauspielerführung mit den neuen Errungenschaften der Montage. Während Eisensteins Assoziationsmontage mittels der Kollision zweier Bilder auf eine dialektische Erkenntnis zielte, setzte Pudowkin bei seiner Montagemethode auf Kontinuität: Eine Bildkette sollte beim Zuschauer emotionale Anteilnahme wecken.Das sowjetische Kino der Zwanzigerjahre strebte stets auch nach filmischen Realismus. Der Dokumentarist Dsiga Wertow propagierte die Überlegenheit des »Kamera-Auges« gegenüber dem menschlichen Auge: Allein die Kamera könne das Leben in seiner Unmittelbarkeit einfangen. Folglich sind in »Der Mann mit der Kamera« (1929) ein Kameramann und seine Apparatur die Protagonisten. Kurbelnd eilt der Operateur durch die Einstellungen, und er filmt das Großstadtleben aus allen erdenklichen Perspektiven. Die meisten Filmschaffenden des zaristischen Kinos emigrierten nach der Oktoberrevolution in die Hauptstädte westlicher Länder. Paris avancierte zum Zentrum des russischen Emigrationsfilms, wo der Produzent Iossif Jermoljew exilierte Landsleute um sich scharte. Die von ihm produzierten Filme, die Iwan Mosschuchin auch in Frankreich als Star etablierten, ließen die Welt des vorrevolutionären Russland nochmals auferstehen, zeigten sich zugleich aber offen für die Einflüsse der zeitgenössischen französischen Avantgarde.Die französische Filmindustrie, die vor dem Ersten Weltkrieg mit ihren Produktionen den Weltmarkt dominiert hatte, sah sich nach Kriegsende mit großen ökonomischen Schwierigkeiten konfrontiert. Große Firmen wie Pathé und Gaumont konzentrierten sich auf den Filmverleih, und die Produktion wurde von kleinen Gesellschaften aufrechterhalten. Diese Entwicklung bot jedoch Chancen für einen künstlerisch ambitionierten Film. Junge Regisseure - zum Beispiel Marcel L'Herbier und Abel Gance - forderten eine streng visuelle Ästhetik als Grundlage der Filmkunst. Ihre Filme wollten Stimmungen und Gefühle hervorrufen, weshalb man sie rückblickend auch als »Impressionisten« bezeichnet hat. Während L'Herbier unter anderem in dem Film »L'Argent« (= Das Geld, 1928) mit stilisierten und abstrakt-modernistischen Kostümen und Dekors experimentierte, arbeitete Abel Gance in »La roue« (= Das Rad, 1923) mit subjektiven Kameraperspektiven und einer rhythmisierenden Montage. In immer rascherer Folge wechseln Räder, Schienen, Signale, Instrumente und Rauch mit Landschaftsimpressionen und Gesichtern. Die beschleunigte Montage vermittelt das Gefühl einer unvermeidbaren Katastrophe. Nach vier Jahren Drehzeit vollendete Gance 1927 seinen monumentalen biographischen Film »Napoléon«; in vielen Einstellungen verwendete er die »entfesselte Kamera« - die er auf dem Sattel eines Pferdes befestigte oder durch die Luft warf, um die Perspektive eines geworfenen Schnellballs wiederzugeben - und setzte verschiedene Projektionsformate ein, die die spätere »Split-screen-Technik« (»split screen« = geteilte Leinwand) vorwegnahmen.Auch der dänische Regisseur Carl Theodor Dreyer widmete sich in »Die Passion der Jungfrau von Orléans« (1927) einer französischen Heldenfigur. Dreyer beschränkte die ästhetischen Gestaltungsmittel auf ein Minimum und bediente sich fast ausschließlich der Großaufnahme, um dem Leiden der Titelheldin Ausdruck zu geben. Die Kamera fängt in diesem Film ihr Gesicht als Spiegel der Seele ein. Von den zeitgenössischen Avantgardeströmungen schlugen sich auch Dadaismus und vor allem Surrealismus im französischen Kino der Zwanzigerjahre nieder. Letzterer fand in zwei Filmen, die die beiden Spanier Salvador Dalí und Luis Buñuel gemeinsam inszenierten, den provokantesten Ausdruck: »Der andalusische Hund« (1928) und »Das goldene Zeitalter« (1930).Dr. Daniela Sannwald und Robert MüllerFilmklassiker. Beschreibungen und Kommentare, herausgegeben von Thomas Koebner. 4 Bände. Sonderausgabe Stuttgart 21998.Geschichte des internationalen Films, herausgegeben von Geoffrey Nowell-Smith. Aus dem Englischen. Stuttgart u. a. 1998.Kreimeier, Klaus: Die Ufa-Story. Geschichte eines Filmkonzerns. Taschenbuchausgabe München 1995.Lexikon des internationalen Films. Das komplette Angebot in Kino, Fernsehen und auf Video, begründet von Klaus Brüne. Bearbeitet von Horst Peter Koll. 10 Bände. Neuausgabe Reinbek 1995.Mythen der Nationen. Völker im Film, herausgegeben von Rainer Rother. München u. a. 1998.Reisz, Karel und Millar, Gavin: Geschichte und Technik der Filmmontage. Aus dem Englischen. München 1988.Sachlexikon Film, herausgegeben von Rainer Rother. Reinbek 1997.
Universal-Lexikon. 2012.